Merkmale der Hochsensibilität
Wenn wir uns nun als hochsensibel erkannt haben und anderen davon erzählen, fragen diese meist konsterniert: Hältst Du mich denn etwa nicht für sensibel? Wahrscheinlich schon, denn jeder Mensch hat empfindsame Wesensseiten, reagiert in bestimmten Situationen feinfühlig und empfindlich, aber eben nicht ständig und so intensiv.
Das neuronale System der HSP verarbeitet die Reize der Innen- und Außenwelt anders als das der Nicht-HSP. Sie haben ein überaus empfindliches Nervensystem, ihre Wahrnehmungsfilter sind schwächer ausgebildet, die Reizschwelle niedrig, und sie nehmen Nuancen und Details mit allen Sinnen äußerst intensiv auf. Jeder Sinneseindruck kommt verstärkt bei ihnen an, und selbst die Einfühlung in die Stimmungen der Mitmenschen und in zwischenmenschliche Beziehungen ist weitaus stärker und feiner ausgeprägt als bei Nicht-HSP. Alles, was sie wahrnehmen, wird auf mehreren Ebenen reflektiert, alles, was ihnen innen oder außen begegnet, wird nicht nur äußerst nuanciert empfunden, sondern auch in seiner Komplexität erfasst. Bei manchen beschränkt sich die Überflutung von Reizen nur auf bestimmte Auslöser. Andere sind gegenüber allen Reizen hochsensibel. Auch eine Überstimulation ist schnell erreicht und wird als negativer Stress empfunden, sodass die Fülle nicht ausblendbarer Erregungen und Eindrücken sie überfordert. Das Bestreben nach Harmonie einer HSP steht ständig auf der Kippe. Und so weichen sie Konflikten auch lieber aus, denn Streitereien drohen ihr ganzes Wesensgefüge zum Einsturz zu bringen.
Da wir störende Einflüsse also kaum ausblenden können, sind wir viel früher als Nicht-HSP einer Reizüberflutung und Überstimulation ausgesetzt und stoßen schnell an unsere Belastungsgrenze. Menschenansammlungen, Lärm, grelles Licht, gesellschaftliche Ereignisse, Partys, Kaufhäuser, Fahrten in einer vollgestopften U-Bahn etc. bedeuten für HSP Stress und Überforderung, die oftmals zu Schlafmangel führen. Diese Schlafstörung erzeugt nun aber langfristig einen erhöhten Cortisolspiegel, und in der Folge muss man mit weiteren somatischen Störungen rechnen. Ein durch Dauerstress erzeugter Kreislauf.
Das unbestimmte Gefühl, irgendwie „anders“ zu sein, können die wenigsten adäquat schildern. Da Hochsensibilität angeboren ist, macht man erste verstörende oder sogar traumatische Erfahrungen bereits in der Kindheit. Im Laufe des Lebens verändert sich der Umgang mit unserer Sensibilität, einige Empfindsamkeiten werden verstärkt, andere abgeschwächt, aber selten schafft man es, dauerhaft ausgeglichen zu sein und mit dem Überangebot an Reizen harmonisch umzugehen.
Stärken und Schwächen
Hochsensible sind keineswegs ein Irrtum, sondern – wie wir noch sehen werden - eine Strategie der Evolution. Wenn den Betroffenen bewusst wird, dass sie hochsensibel sind und was das bedeutet, ändert sich ihre Einstellung zu sich und anderen. Bislang konnten sie sich ihr Anderssein und Verhalten nicht erklären, fühlten sich durch Kleinigkeiten überfordert, zogen sich eher zurück, als das Risiko einzugehen, weiter durch dumme Sprüche („Stell Dich nicht so an!“) verletzt zu werden. Diese negative Einschätzung entsteht allerdings nur im Vergleich mit den Nicht-HSP, jenen dominierenden 80%, die uns durch ihr Verhalten und ihre Reaktionen zu verstehen geben, wie ängstlich, schüchtern, ungesellig und was für „Spielverderber“ wir doch seien. Ob man sich „outen“ will, muss jeder für sich entscheiden, meist genügt es, sich selbst als HSP erkannt zu haben.
Da wir nicht nur mehr Reize empfangen, sondern auch länger und tiefer über alles nachdenken, was uns als Reiz, Sinneseindruck und Stimulation begegnet, brauchen wir mehr Zeit und Ruhe zur Verarbeitung der Eindrücke. Dieses dringende Bedürfnis nach Reflexion und Rückzug, die Muße etwas zu überdenken, bevor man handelt, Zaudern und Vorsicht bei Entscheidungen werden häufig als Introvertiertheit oder Schüchternheit angesehen. Sicher können HSP auch introvertiert und schüchtern sein. Elaine Aron, die die Hochsensibilität bekannt machte, belegte durch ihre Forschungen, dass etwa 70% der Hochsensiblen introvertiert sind, aber Introversion kein generelles Merkmal der Hochsensibilität ist. Allerdings reagieren Hochsensible schon als Kinder auf ihr Umfeld und ihre Bezugspersonen sehr viel durchlässiger und empfindlicher. Sie fühlen sich allen Stimmungen und Konflikten ziemlich hilflos ausgesetzt und können als Folge davon introvertiert oder schüchtern werden.
Introvertiertheit und Schüchternheit werden mit inaktiv, ängstlich, langsam, gehemmt und menschenfeindlich oder sogar neurotisch gleichgesetzt. Doch introvertiert zu sein ist kein Makel, sondern einfach eine andere Art zu sein, zu empfinden, die Welt zu sehen, der Qualität vor der Quantität den Vorzug zu geben. Man hat zum Beispiel nur wenige, aber gute Freunde, fühlt sich mit sich allein oftmals besser als mit anderen. Aber das kann auch anders sein, denn Introvertierte verkriechen sich ja nicht nur, und Extravertierte brauchen auch ihre Zeit der Ruhe und Besinnung. C.G. Jung sagt dazu: „Von einem höheren Standpunkt aus gesehen sind solche Menschen lebendige Zeugen für die Tatsache, dass die reiche und viel bewegte Welt und ihr überquellendes und berauschendes Leben nicht nur außen, sondern auch innen ist.“ 1 Es gibt auch ursprünglich extravertierte Hochsensible, die sich durch erlittene Zurückweisung und Abwertung zurückziehen, um sich einer sie nur verletzenden Umwelt nicht länger auszusetzen.
So frustriert Hochsensible oft auch sein mögen, reiches Erleben und Empfinden gleicht vieles wieder aus. Die Intensität des Wahrgenommenen steigert die Vorstellungskraft, Gefühle und Stimmungen werden stärker und erfüllender erlebt. Außergewöhnliche Kreativität, eine ungewöhnlich starke Intuition, intensive Freundschaften und ein nuanciertes „Sehen“ verborgener Schönheiten schenken ihnen Sinn und ein erfülltes Leben. Hinzu kommen die Lust an Reflexion, das Erkennen komplexer Zusammenhänge und die Gabe eines subtilen Gespürs, hinter den normalen Gedanken noch weitere zu erahnen. Mit den wenigen, aber sehr guten und intimen Freunden sind wunderbare Gespräche möglich, sie werden deshalb gleichermaßen von HSP und Nicht-HSP geschätzt, bewundert und um Rat gefragt. Ihre Empathie ist überdurchschnittlich und zusammen mit dem Wunsch anderen zu helfen, erfahren sie Dank und Zuwendung. Manche haben so etwas wie den 6. Sinn, sehen Ereignisse und deren Folgen voraus und können so andere vor Unglück bewahren.
Außergewöhnlich sind bei einigen ihre Umsicht und Ruhe in Krisensituationen, sie handeln dann, als ob eine bislang unbekannte Kraft sie leitet. Während alle aufgeregt durcheinander hasten oder vor Schreck erstarren, hält die HSP alle Fäden in der Hand und fällt mit kluger Voraussicht Entscheidungen. Auch das ein Resultat ihrer komplexen Wahrnehmung.
Nachstehend eine Aufzählung der wichtigsten Stärken und Schwächen:
- Komplexere und intensivere Verarbeitung der Sinneseindrücke
- Gute und detaillierte Beobachtungsgabe
- Nuancierte Wahrnehmung unterschwelliger Reize und subtiler Nuancen
- Großes Feingefühl und intuitives Wissen
- Überdurchschnittliches Einfühlungsvermögen und Mitgefühl
- Empathisches Erspüren von Stimmungen und Bedürfnissen anderer
- Großes Mitgefühl für Schwache und Hilfsbedürftige
- Präkognitive Veranlagung
- Spirituelles Bewusstsein
- Tiefes Gespür für das Hintergründige und Nicht-Sichtbare
- Große Berührbarkeit durch Kunst, Musik, Natur
Die Kehrseite:
- Große Störanfälligkeit
- Stresssymptome bei Reizüberflutung
- Neigung zu Überreaktionen
- Geringe Belastbarkeit bei Überforderung
- Reizbarkeit und Stimmungsschwankungen
- Starke Beeinflussung durch negative Gefühle des Umfelds
- Erschöpfung nach intensiven Kontakten mit anderen
- Geringe Fehlertoleranz
- Kontaktabbrüche durch Empfindlichkeiten
- Plötzlicher Stimmungsumschwung in eine schwer zu beherrschende Reizbarkeit
- Rückzug vom Gesellschaftlichen bis hin zur Sozialphobie
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