In diesem erstmals auf Deutsch erscheinenden Buch befasst sich Rudhyar mit dem Unterschied zwischen ereignisorientierter und personenzentrierter Astrologie. Astrologie ist ein Weg zur Selbstverwirklichung. Es kommt nicht so sehr darauf an, was uns auf unserem Lebensweg begegnet, viel wichtiger ist es mittels der Astrologie zu erkennen, warum wir etwas begegnen. Was steckt in uns, das uns zur Entfaltung unserer Persönlichkeit antreibt. Er betrachtet die zyklischen Prozesse im Leben und unterzieht die Planetenstrukturen im Horoskop einer eindeutigen Analyse. Ein ausführliches Kapitel handelt von den Planetenknoten und den Mondknoten. Anhand zweier Beispiele zeigt er, wie man ein Horoskop ganzheitlich deutet.
Dane Rudhyar (1895 - 1985) geboren und aufgewachsen in Frankreich. Er komponierte zahlreiche Werke für Orchester und Klavier und emigrierte während des Ersten Weltkrieges in die USA. Dort kam er zu der Theosophischen Gesellschaft und befasste sich intensiv mit östlicher Philosophie und Psychologie. Seit Erscheinen seines Hauptwerkes "Die Astrologie der Persönlichkeit" gilt er als der Begründer der psychologischen Astrologie. Er verfasste 60 meist astrologische Bücher.
Der personenzentrierte, harmonische Zugang
Bei der vorangegangenen Darstellung der ereignisorientierten Astrologie, die die Untersuchung der Aktivitäten der planetarischen und kosmischen Kräfte zum Inhalt hatte, sahen wir, dass der Mensch individuell und kollektiv den Auswirkungen dieser Kräfte unterworfen wird. Nun möchte ich ein Bild entwerfen, bei dem der Mensch als das Thema eines komplexen Spiels der Energien in Erscheinung tritt, die in einem konkreten erd-bezogenen Aktionsbereich objektiviert werden, also in einem Individuum. Jedes Individuum ist ein komplexes, existenzielles Ganzes an Aktivitäten, eine Ganzheit, die sich als „Ich“ äußert. Ich, der wirkliche Mensch. “Wirklich“ deswegen, weil dieser Mensch eine harmonische Gruppierung an unabhängigen und miteinander verwobenen Aktivitäten in sich vereinigt. Er kann diese Aktivitäten herbeiführen, er ist in der Lage, diese zu überwachen oder ihnen Bedeutung zu verleihen. Und „Wirklichkeit“ ist auf jeder Ebene des Seins – vom unermesslich Kleinen bis zur unendlichen Weite – das harmonische Zusammenspiel mannigfaltiger Aktivitäten, die gemäß einer charakteristischen Struktur und innerhalb eines sich selbsterhaltenden Feldes organisiert werden.
In einfacheren Worten ausgedrückt bedeutet dies, dass jedes Individuum ein verhältnismäßig unabhängiges, organisches Ganzes ist, in dem eine Vielzahl von Kräften dynamisch aufeinander einwirken. Dies vollzieht sich entsprechend eines ursprünglichen und auslösenden Musters, welches das Lebensziel und die Beziehung zu allen anderen Einheiten des Universums gestaltet. Dieses organische Ganze – das Individuum – unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von dem beinahe unendlich größeren und unermesslicheren organisierten Ganzen, welches wir Universum nennen. Tatsächlich bildet das Individuum einen ganz bestimmten Aspekt des universellen Ganzen. Die einzelne Person ist dieses universelle Ganze, das sich an einem besonderen Punkt im Raum und im Sinne bestimmter Bedürfnisse exakt im Augenblick seines Eintritts in die unabhängige Existenz fokussiert. Dies ist der Moment des ersten Atemzuges, denn durch diesen werden die Grundrhythmen der Existenz des Geborenen in einer bestimmten Umgebung festgelegt.
Alle Kräfte des Universums sind latent in diesem geordneten menschlichen Ganzen, dem neugeborenen Säugling vorhanden. Sie sind als Möglichkeit da. Es sind bei allen Menschen – genau genommen in jedem organisierten System – die gleichen Kräfte. Lediglich die Gestalt und Anordnung dieser Kräfte unterscheidet sich bei jedem neugeborenen Wesen, und sei es nur in geringem Maße. Dieser Unterschied begründet die Individualität und das individuelle Lebensziel des neu in Erscheinung tretenden Menschen. Ebenso enthält jedes Geburtshoroskop die gleichen Planeten. Es ist sinnlos von „meinem Jupiter“ oder „meinem Saturn“ zu sprechen. Die wesentlichen Elemente oder Grundtriebe sind in jedem geordneten und existenziellen System dieselben. Was sich unterscheidet, ist die Struktur oder „Form“ der Anordnung. Würde ein mit übermenschlicher Visionsgabe versehener Botaniker nach dem Betrachten einer Eichel ein zweidimensionales Diagramm mit allen für eine Eiche charakteristischen Strukturen malen, die sich als eine Eiche verwirklichen würden, dann müsste er genauso verfahren wie ein Astrologe, der das Horoskop eines Neugeborenen berechnet.
Das Geburtshoroskop definiert die Struktur der Person. Es ist so gesehen der Plan dessen, was zum vollendeten „Tempel“ des reifen und vollkommenen Menschen werden könnte. Ich sage bewusst „könnte.“ Denn das Geburtshoroskop bezieht sich nur auf die Möglichkeiten. Es verspricht überhaupt nichts im Sinne von konkreten und festgelegten Ereignissen. Ähnlich einem Gärtner, der beim Einpflanzen einer Eichel nur sicher sein kann, dass in ein paar Jahren eine große und kräftige Eiche an diesem Ort stehen wird. Die Einflüsse der Umgebung, die Bodenbeschaffenheit, Witterungsverhältnisse, Gewitter, Beeinträchtigungen durch Schädlinge, Tiere und Menschen können das Gedeihen der Eiche zunichtemachen. Sie wird aber gemäß der in ihr angelegten Grundstruktur der Spezies Eiche wachsen. Aus ihr wird kein Apfelbaum werden.
Dies bedeutet, dass der Mensch – der Mensch, der „Ich“ sagt – sich nicht außerhalb seines Geburtshoroskops befindet. Er ist die Ganzheit des Horoskopbildes. Er befindet sich nicht in einem grundlegenden Konflikt mit den Energien der menschlichen Natur oder ihren planetaren Entsprechungen im Sonnensystem, denn er ist deren Harmonie. Dies kann eine überwiegend „konsonante“ Harmonie sein (und demnach mit einem grundsätzlich statischen Charakter) oder es kann eine vorwiegend „dissonante“ (d.h. dynamische) Harmonie sein. Es ist aber immer im Wesentlichen Harmonie, denn es repräsentiert das gesamte Universum, das auf einen bestimmten Ort und Zeitpunkt konzentriert ist.
Jeder Mensch ist ein ins Einzelne gehender Aspekt des umfassenden Universums – oder religiös gesprochen, von Gott. In einem enger gefassten aber realistischeren Sinn ist jedes menschliche Wesen ein Teilaspekt der „Menschheit“. Jeder wird als Antwort auf das menschliche Bedürfnis nach einer definitiven Zeit und einem definitiven Ort geboren. Da dieses „Bedürfnis“ eingeschränkt ist, denn es bezieht sich auf eine vorübergehende Situation, muss die Person, deren Lebensaufgabe darin besteht, auf dieses Bedürfnis zu reagieren – manche würden an dieser Stelle auch von „Karma“ reden – einen bestimmten Charakter oder ein bestimmtes Temperament haben. Der Mensch ist, was er ist, denn das ist genau zu dem Zeitpunkt für ihn erforderlich. Sein Horoskop legt die Lösung für dieses Bedürfnis dar. Es ist die existenzielle Formel für sein ganzes Sein, sozusagen seine „Signatur“ (im okkulten Wortsinn verstanden), sein heiliger Name.
Ist dem so, dann macht der Satz: „Der Weise beherrscht die Sterne“ wenig Sinn. Der wahre Weise ist die perfekte Harmonie aller Energien, die sich selbst nach außen verlagern und durch sein vollkommenes Sein in einem bestimmten Augenblick wirken. Er erfüllt sein „Dharma“ vollkommen, die Wahrheit seines Seins. Jeder Augenblick seiner Existenz ist für ihn eine Phase in einem Prozess, der sich in Schönheit, Bedeutsamkeit, Zielbewusstheit und Friede entfaltet. Der einzige Wille, den er kennt und den er anwendet, ist der Wille, ganz und gar das zu bleiben, was er als besonderer Brennpunkt für die Aktivität des Menschen, oder des Universums als Ganzem oder Gott ist. Er ist das Ganze, welches an einem bestimmten Punkt in Raum und Zeit handelt, und zwar durch die Konzentrierung auf die Struktur seiner Gesamtpersönlichkeit. Und das weiß er, auch wenn er nur ein Aspekt von unzähligen anderen in diesem Ganzen ist.
Wenn manche Personen sich als von der Menschheit und von dem Universum getrennt betrachten und wenn sie denken, sie müssten deswegen mit natürlichen Energien umgehen, die ihnen eigentlich als befremdend vorkommen, da diese außerhalb von (oder metaphysisch über) ihnen sind, dann bedeutet dies, dass sie nicht erkennen, was sie sind. Diese Menschen haben eine falsche Art von Individualisierung erfahren. Sie möchten aus einem falschen Stolz heraus nicht anerkennen, dass die durch sie tummelnden Energien identisch sind mit denen, die in allen Menschen wirken. Sie erkennen nicht die gemeinsame Verwurzelung im Menschsein aller Menschen. Ihr Verstand reagiert nur auf die örtlichen Bedingungen von Familie, Kultur und Religion. Die haben keine Vorstellung davon, was ein globales Bewusstsein bedeutet.
Wenn man die Pfahlwurzeln aller Bäume der Erde verlängerte, dann würden sie im Zentrum des Erdballs aufeinanderstoßen. Würden alle Menschen gleichzeitig auf dem gesamten Globus aufrecht stehen, dann würden sich die verlängerten Achsen ihrer Wirbelsäule im Zentrum der Erde treffen. Dennoch würde jede dieser Wirbelsäulen auf einen anderen Stern in der Galaxie hindeuten. Dies ist ein symbolisches Bild, über das es sich nachzudenken lohnt. Es könnte den Verlauf der Menschheitsgeschichte verändern, wenn es die Imaginationskräfte aller Menschen durchschlagend wachrütteln würde. Zumindest würde es einen Gesichtspunkt des alten Kundalini Yoga erklären, worüber so viele Menschen heutzutage ziemlich nichtssagend reden.
Den Menschen finden wir symbolisch in der Mitte des Erdballs und nicht im Himmel. Und genau aus diesem Grund sollte eine humanistische Astrologie geozentrisch sein. Aber dies ist nur ein Aspekt, denn sie sollte auch „personenzentriert“ sein. Jeder Mensch hat seinen eigenen realen Horizont, seinen Stern am Zenit und seinen genau entgegengesetzten polarisierenden Faktor. Die einzigartige Aufgabe eines Menschen hängt astrologisch gesprochen von seiner genauen Orientierung im galaktischen Raum ab. Dies meine ich aber nicht im Sinne eines mehr oder weniger mythologischen Tierkreises, der sich lediglich auf die Grundenergie bezieht, welche die bio-psychische Vitalität antreibt, sondern im Hinblick auf einen einzelnen, meistens namenslosen Stern der Galaxie. Der Stern genau über uns im Zenit des Geburtshimmels symbolisiert die himmlische Identität des Menschen – und wer weiß, vielleicht sogar in einem ganz realen Sinn.
Die Aufgabe der Astrologie besteht darin, einem verwirrten und meistens durch den Druck der sozio-kulturellen Umgebung verdrehten Verstand die Grundstrukturen zu enthüllen, welche die besondere Art charakterisieren, in der die Energien der menschlichen Natur organisiert sind. Auf diese Weise kann der Mensch sich orientieren, polarisieren und seine Aktivitäten (auf allen Ebenen seines Lebens) entsprechend dieses himmlischen Musters neu ordnen. Diese kosmische Struktur ist sein wahrer Name. Sie ist die Manifestation seines Selbst im Bereich von „Form und Begriff“. Was ich hier das „Selbst“ nenne, muss man aber vom „Ego“ unterscheiden., insbesondere da viele moderne Psychologen diese Unterscheidung versäumen und dem Begriff Selbst eine vieldeutige und ausufernde Bedeutung geben, die eigentlich schon dem „Individuum“ entspricht. Dadurch entsteht einige Verwirrung in der Psychologie.
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